Wahrnehmungsdiagnostik
für Eltern, Erzieher und Pädagogen zum Thema AVWS
DEFINITION: AVWS sind Störungen der Verarbeitung auditiver Informationen bei intaktem peripherem Hören und normaler Intelligenz. Für dieses Störungsbild werden in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, wie z.B. auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS), (zentral-)auditive Wahrnehmungsstörung oder auditive Perzeptionsstörung oder zentrale Hörstörung. Unter diesen Diagnosen einer AVWS wird eine Vielzahl zentraler Hörbeeinträchtigungen in individuell sehr variabler Ausprägungsform zusammengefasst.
Hierzu zähen beispielsweise ein eingeschränktes auditives Gedächtnis oder die Schwierigkeit, klangähnliche Laute oder Wörter sicher unterscheiden und korrekt nachsprechen zu können. Während mit Schwerhörigkeit überwiegend eine Störung von Mittel- oder Innenohr gemeint ist, ist hier von einer Beeinträchtigung der weiteren Informationsverarbeitung im Gehirn, bei vorhandenem Informationszufluss durch das Ohr, auszugehen.
DIAGNOSE: Bei der Diagnose einer Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung kommt regelhaft eine breite Testbatterie spezieller diagnostischer Verfahren zur Anwendung. Das hat den Grund, dass nach heutigem Stand der medizinischen Forschung, mit einer einfacheren Testanordnung der Vielfältigkeit dieses Störungsbildes nicht hinreichend Rechnung getragen werden kann.
Geprüft werden basale Fähigkeiten des Hörens (Low-Level-Funktionen), das Sprachverständnis im Störschall, das Richtungsgehör, die Geräuschempfindlichkeit sowie das Hörgedächtnis (die Hörmerkspanne).
Voraussetzung für die Diagnose einer AVWS sind ungestörtes peripheres Gehör, der Ausschluss einer visuellen Wahrnehmungsstörung sowie eines Intelligenzdefektes.Des Weiteren werden die üblichen peripheren-audiologischen Prüfverfahren, die auch kinderärztlich bzw. HNO-ärztlich erbracht werden können, als unauffällig vorausgesetzt. Vorhandene pathologische Ergebnisse, wie z.B. Paukenergüsse oder Innenohrschwerhörigkeit müssen vorab korrigiert werden. Ebenfalls gehört die Hirnstammaudiometrie in den Kreis der vorab durchzuführenden diagnostischen Untersuchungen, da diese eine Vorbeschäftigung mit Wahrnehmung und Verarbeitung im engeren Sinn ist.
Differenzialdiagnostische Methoden:
1. Sprache im Hörschall
Abhängig vom Lebensalter wird mit dem Göttinger Kindersprachtest bzw. Freiburger Erwachsenenmaterial im Störschall audiometriert. Die Untersuchung simuliert das Hören in einer Geräuschkulisse, zum Beispiel in einer Schulklasse. Gemessen werden Sprachverständnis im freien Schall bei 65 dB ohne und mit 60 dB im Störschall.
2. Hörfeldskalierung
Die Hörfeldskalierung misst das subjektive Lautheitsempfinden der Testperson. Bei Überschreiten der Unbehaglichkeitsschwelle für die Gesamtpopulation ergibt sich der Verdacht auf Hyperakusis (Über- bzw. Fehlhörigkeit). Es werden vier Hörsequenzen gemessen.
3. Dichotischer Hörtest
Beim Dichotischen Hörtest nach Feldmann bzw. Uttenweiler wird Sprachmaterial altersadäquat über beide Ohren gleichzeitig eingespielt (komplexe zusammengesetzte Wörter). Gemessen wird die Verständlichkeit pro Ohr in Prozent. Ist die Verständlichkeit deutlich herabgesetzt, spricht dies für eine zentrale Verarbeitungs- bzw. Synthesestörung. Trotz peripheren Normalgehöres ermittelt sich dann ein schwächeres Ohr.
4. Untersuchungen der basalen Funktionen komplexen Hörens (Low-Level-Funktionen)
a. Tonhöhen Unterscheidungsvermögen
Das Erkennen der Tonhöhe, auch bei der Sprachverarbeitung, ist essentiell zum Sprachverständnis.
b. Tonlücke
Die Lückenerkennung (Gap Detection) liefert eine Information über das Erfassens von Einheiten bzw. die Informationsgewinnung aus Pausen beim Verstehen gesprochener Sprache.
c. Tonpegel
Die Lautheitserkennung ist Voraussetzung für das gefilterte Sprachhören in lärmender Umgebung.
d. Akustische Ordnungsschwelle (Zeitordnung)
Die akustische Ordnungsschwelle ist das Maß der kleinsten erforderlichen Zeitdauer zwischen als unterschiedlich zu erkennenden Impulsen. Eine niedrige Ordnungsschwelle ist Voraussetzung für das Verständnis rasch gesprochener Sprache.
e. Visuelle Ordnungsschwelle
Analog zur akustischen repräsentiert die visuelle Ordnungsschwelle das Maß der kleinstmöglichen Signalunterscheidung innerhalb des visuellen Systems. Diese Fähigkeit ist von grundlegender Bedeutung für den Schriftspracherwerb.
f. Seitenordnung
Die so genannte Lateralität kennzeichnet die Fähigkeit, über Richtungsgehör, eine Geräuschquelle im Raum zu orten. Bei der Low-Level-Funktionsprüfung kommt hierfür die Grobunterscheidung rechts-links zur Anwendung.5. Die Bestimmung der Hörmerkspanne (Mottier-Test)
Mit dem Mottier-Test wird die so genannte Hörmerkspanne gemessen. Sie zeigt die Fähigkeit sinnlose, unsystematisch gereihte, gesprochene Silben im Kurzzeitgedächtnis zu speichern und zeitnah wieder abzurufen.
KONSEQUENZEN: Als Konsequenz einer AVWS ergibt sich für hiervon betroffene Menschen häufig das Problem eines herabgesetzten Informationsgehaltes von gehörter Sprache besonders unter ungünstigen Hörsituationen. Etwas vereinfacht formuliert: das Kind hört gut und versteht schlecht oder kann sich Gehörtes schlecht merken. Diese Schwäche kann sowohl Geräusche als auch (gehörte) Sprache betreffen.
Ein ungünstiges Verhältnis von Nutzschall (Sprache) zu Stör- und Hintergrundgeräuschen hat dabei für die von AVWS betroffenen Personen eine besondere Bedeutung. So kann es z.B. in der Schule zu Abbrüchen in der Sinnerfassung insbesondere komplexerer Unterrichtsinhalte kommen. Folge solcher Schwierigkeiten in der Informationsaufnahme können dann Verhaltensauffälligkeiten eines Schülers etwa in Form von Unruhe, Zeichen von Unkonzentriertheit, „Desinteresse“ oder „störendem Verhalten“ sein. Eine AVWS wird also als solche häufig nicht direkt erkennbar, sondern kann zu Verhaltensauffälligkeiten führen, die zunächst nicht unmittelbar mit Hörproblemen in Verbindung gebracht werden. Als Ursache hierfür kann dann eine latente Höranstrengung, die von dem von AVWS betroffenen Kind nicht beliebig kompensiert werden kann, angenommen werden.
Die AVWS ist im Sinne einer Teilleistungsstörung aufzufassen und bedingt damit definitionsgemäß keine hierdurch begründeten Einschränkungen der intellektuellen Entwicklung. Entsprechend wären Lernschwierigkeiten auf Grundlage einer AVWS nicht über eine Änderung des Lernzieles zu begegnen, sondern über Erleichterungen hinsichtlich der Hörbedingungen im Unterricht.
Die Teilfunktionen der zentral-auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung (nach Lauer)Aufmerksamkeit: Die Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, sich auditiven Reizen zuzuwenden und diese bewusst wahrzunehmen. Sie stellt eine wichtige Basisfunktion für die auditive Verarbeitung dar. Ohne sie können die weiteren auditiven Funktionen nicht adäquat ablaufen. Liegt also ein Aufmerksamkeitsdefizit vor, ist dieses vorrangig zu behandeln, bevor an die Behandlung anderer Teilfunktionen herangegangen werden kann.
Speicherung & Sequenz: Unter Speicherung versteht man die Fähigkeit auditive Stimuli kurzfristig im Gedächtnis zu speichern. Bei der Sequenz ist zusätzlich die Reihenfolge der gespeicherten Stimuli relevant. Diese beiden Komponenten bilden den Arbeitsspeicher (Kurzzeitgedächtnis). Speicherung & Sequenz stellen ebenfalls eine Basis der auditiven Verarbeitung dar, ohne die keine Weiterverarbeitung möglich ist.
Lokalisation: Die Lokalisation ist die Leistung, Richtung und Entfernung auditiver Stimuli festzustellen und basiert auf der Fähigkeit des Hörsystems, sich durch binaurales (beidohriges) Hören im Raum zu orientieren.
Diskrimination: Dies ist die Fähigkeit Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen auditiven Stimuli – insbesondere Sprachlauten – zu erkennen.
Selektion: Unter Selektion versteht man die Fähigkeit zur Unterscheidung bedeutungsvoller Informationen von Umgebungsgeräuschen. Dies ist umso schwieriger, je mehr Nebengeräusche vorhanden und je komplexer diese sind.
Analyse: Die Analyse ermöglicht es, einzelne Elemente aus einer akustisch komplexen Gestalt herauszulösen. Sie kann auf sprachlicher Ebene in die Lautidentifikation („Ist ein /f/ in ‚Foto’?“) und die Positionsbestimmung („Ist das /f/ in ‚Foto’ am Anfang oder Ende?“) eingeteilt werden. Die Analyse ist eine wichtige Fähigkeit im Hinblick auf den Erwerb der so genannten „phonologischen Bewusstheit“ und dem damit verbundenen Schriftspracherwerb.
Synthese: Fähigkeit, aus einzelnen Elementen eine komplexe akustische Gestalt zusammenzusetzen (z.B. ‚M-i-l-ch’ heißt ‚Milch’). Auch diese Leistung ist – in Zusammenhang mit der Analyse – bedeutsam für den Schriftspracherwerb. Ohne die Synthese können die einzeln gelesenen Buchstaben nicht zu einem sinnvollen Wort zusammengesetzt und somit „gelesen“ werden.
Ergänzung: Fähigkeit, fragmentarische akustische Informationen zu einer sinnvollen Information zusammenzusetzen. Sie ist immer dann notwendig, wenn in der Kommunikation Informationsanteile verloren gehen und auf der Basis des eigenen Wortschatzwissens entsprechend ergänzt werden müssen (z.B. ‚-ele-on-uch’ heißt ‚Telefonbuch’).Zur Veranschaulichung werden die Teilfunktionen hier getrennt beschrieben. Es bestehen jedoch unterschiedliche Verbindungen zwischen den einzelnen Funktionen, d.h. sie interagieren miteinander und sind eigentlich nicht klar voneinander zu trennen. Aufmerksamkeit und Speicherung/Sequenz sind die Basisfunktionen, auf denen die anderen Teilfunktionen aufbauen.
Das Zusammenwirken der einzelnen Teilfunktionen der zentral-auditiven Verarbeitung untereinander wird als intramodale Integration bezeichnet. Unter intermodaler Integration versteht man die Verbindung der auditiven Verarbeitung mit anderen Verarbeitungsprozessen wie der visuellen oder taktil- kinästhetischen Wahrnehmung. Trotz individuell sehr variabler Ausprägungsformen einer AVWS können doch einige Maßnahmen benannt werden, welche für das hiervon betroffene Kind eine Entlastung bzw. einen günstigen Effekt erwarten lassen.
Die folgende Auflistung ist dabei als Anregung zu verstehen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Allgemeine Hilfestellungen (Elternhaus, Kindergarten, Schule):
Spezielle Hilfestellungen im Vorschulalter:
Spezielle Hilfestellungen im Schulalter:
Ergänzend sei noch angemerkt:
Quellen: